Die zwei Eroberungen des Lacandonischen Urwalds
(ROBIN WOOD-Magazin 1/2002)

Ein Wald liegt im Sterben. Im südöstlichen Mexiko, wo sich in der Kolonialzeit die Ureinwohner vor den Spaniern zurückzogen und heute die zapatistischen Rebellen Zuflucht vor dem mexikanischen Militär suchen, verschwinden die Reste des Tropischen Regenwalds immer schneller. Indianer und Wälder fallen derselben Entwicklung zum Opfer. Eine Tragödie, die vor über 450 Jahren mit der Kolonialisierung begann, neigt sich ihrem Ende zu.

„Über tausend verschiedene Wege blutet Chiapas aus: über die Öl- und Gasleitungen, über die Stromnetze, über die Eisenbahnwaggons, über die Bankkonten, über Busse und Lastwagen, über Schiffe, Flugzeuge und auch über geheime Schleichwege. Dieses Land zahlt weiterhin seinen Tribut an die Imperien“ schreibt Subcomandante Marcos, „Sprachrohr“ der Zapatisten.

Rückzugsgebiet und Absender-Adresse von Marcos Kommuniqués ist die Selva Lacandona, der Lacandonische Urwald. Das ehemals vollständig bewaldete Gebiet liegt im Osten von Chiapas an der Grenze zu Guatemala. Der Name ist abgeleitet von der lacandonischen Siedlung „Lacam-Tún“ auf einer Insel im Miramar-­See. Von ehemals 15.000 km2 ist heute nur noch etwa ein Drittel mit Wald bedeckt.

Im Januar 1994, als der Aufstand der Zapatisten begann, erregte der mexikanische Bundesstaat Chiapas weltweit Aufsehen. Die überwiegend indianische Bevölkerung des ärmsten Teils Mexikos nahm die Waffen in die Hand, um gegen ihre Unterdrückung in einem wie eine Diktatur geführtem neoliberalen Wirtschaftssystem zu rebellieren. Nach Jahren des langsamen Erwachens in einem verkrusteten politischen System verlor die Regierungspartei PRI im Juli 2000 nach über siebzig Jahren Alleinherrschaft die Macht.

Mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Vicente Fox der konservativen Partei der nationalen Aktion (PAN) verbanden sich Hoffnungen auf eine Verbesserung der Situation der indigenen Völker.

Tatsächlich verabschiedete der mexikanische Kongress im April eine Verfassungsänderung, um die Rechte der Ureinwohner neu zu regeln. Doch zur bitteren Enttäuschung der Betroffenen wurde der Gesetzesvorschlag der Kommission für Eintracht und Friedensstiftung, der aus Verhandlungen hervorgegangen war, in wesentlichen Punkten verändert.

Die Zugeständnisse an die Autonomie der indianischen Bevölkerung beschränken sich auf die Gemeinde-Ebene. Noch gravierender: das in dem Vorschlag enthaltene Recht der Ressourcennutzung für die indigenen Völker wurde komplett gestrichen. Die mexikanische Regierung war nicht bereit auf die weitere Ausbeutung von Öl, Holz und anderen Rohstoffen auf Indianerland zu verzichten.

450 Jahre Kolonialisierung

Der belgische Wissenschaftler Jan de Vos, der seit Jahrzehnten in Chiapas lebt, beschreibt zwei aufeinanderfolgende Eroberungen des Lacandonischen Urwalds, die beide zu tödlichen Wunden führten. In der Kolonialzeit ging die Kultur der Lacandonen unter, danach wurde der Regenwald durch Holzfirmen, Bauern und Viehzüchter im Zuge einer rücksichtslosen Politik vernichtet.

Schon 1525 berichtet Bernal Diaz de Castillo von der Gefährlichkeit der Lacandonen, als er Hernán Cortés auf einer militärischen Expedition in Campeche begleitete. Die Spanier waren beeindruckt von dem andauernden Widerstand dieses Volkes, das nur etwa tausend Menschen umfasste.

Der Ort Lacam-tún bestand aus Tempeln, Steinhäusern und Plätzen. Die Baukunst, die anspruchsvollen Werkzeuge und die Anlage des Ortes erregten die Aufmerksamkeit der Expeditionsteilnehmer und fanden Eingang in ihren Berichten. Als Halbnomaden lebten die Lacandonen nur zeitweise in ihren Siedlungen. In der übrigen Zeit kümmerten sie sich um den Anbau von Mais, Bohnen und Chili auf den fruchtbaren Böden. Außerdem widmeten sie sich Jagd und Fischerei und stellten Zigarren und Farbstoffe her.

Beim ersten Angriff der Spanier auf die Siedlungen am Miramar-See 1530 konnten die Indianer sich zurückziehen, ihre Häuser und ihr Besitz wurden jedoch geplündert. Sie beschlossen, den Spaniern Widerstand zu leisten und griffen die von den Dominikanern gegründeten Orte an. Die Regierung Guatemalas, zu dem Chiapas in der Kolonialzeit gehörte, organisierte daraufhin 1559 eine Militär-Expedition, an der die Adligen und Kaziken teilnahmen. Die Lacandonen wurden vernichtend geschlagen. Ein Teil von ihnen überlebte jedoch, baute die Siedlung wieder auf und setzte die Feindseligkeiten fort. Eine zweite militärische Operation, mit dem Ziel die Lacandonen zu besiegen, folgte 1586. Wieder wurde die Siedlung im See zerstört und in einem weiten Umkreis alle Felder niedergebrannt. Die Lacandonen konnten jedoch abermals fliehen und gründeten eine neue Siedlung, Sac-bahlán, wo sie über ein Jahrhundert überlebten.

Das letzte Kapitel ihrer Geschichte begann 1694, als Sac-bahlán von dem Franziskaner Antonio Margil de Jesús entdeckt wurde. Empört von deren feindseligem Empfang bat er den Präsidenten des Gerichtshofs Guatemalas, sie mit Gewalt zu unterwerfen. Im Jahr darauf zogen drei Militär-Expeditionen gleichzeitig gegen die Lacandonen aus. Die Indianer mussten sich widerstandslos ergeben und ihre Siedlung wurde zur Mission, besetzt mit drei Mönchen und dreißig Soldaten.

Die meisten der Lacandonen wurden nach kurzer Zeit von bisher unbekannten Krankheiten, die mit den Spaniern aus der alten Welt gekommen waren, weggerafft. Die Mönche nahmen an, dass es sich um die Strafe für den Götzendienst der Lacandonen handelte und waren lediglich bemüht, die Sterbenden rechtzeitig zu taufen, um sie vor der Hölle zu retten. Als 1714 der militärische Stützpunkt verlegt wurde, mussten auch die überlebenden Lacandonen den Ort verlassen, was weitere Leben kostete. Die letzten beendeten ihr Leben in Guatemala, wo 1769 nur noch drei Alte, zwei Männer und eine Frau, angetroffen wurden.

Indianische Flüchtlinge mit Ursprung in Guatemala und Campeche besiedelten nach ihnen ihren Lebensraum. Fälschlicherweise erhielten sie von den Spaniern denselben Namen wie die untergegangenen Lacandonen. Diese Indianer benutzten im Gegensatz zu den früheren Lacandonen, welche sich in Choltí verständigten, die Sprache der Maya aus Yucatan. Sie waren die Vorfahren der heutigen indianischen Bewohner des Lacandonischen Urwalds. Bei den heute als Lacandonen bezeichneten Indianern handelt es sich also nicht um die Nachfahren der ursprünglichen Lacandonen. Auch die Waldstädte von Palenque, Bonampak und Yaxchilán sind nicht von den Vorvätern der heutigen Lacandonen erbaut worden - die Erben ihrer Erbauer sind lange untergegangen.

Nach dem Untergang der Lacandonen begann die Vernichtung des Urwalds.

In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als Chiapas von Spanien unabhängig wurde und zu Mexiko fiel, entdeckte man den Reichtum an Edelhölzern des Regenwalds. So begann die zweite Eroberung des Lacandonischen Regenwalds, die sich diesmal nicht gegen Indianer, sondern gegenMahagoni und Zedern richtete. 1859 wurden erstmals Baumstämme auf den Flüssen transportiert. Bald darauf entstanden an den Ufern der größeren Flüsse kleine Holzfällerbetriebe.

1880 brachten drei Großunternehmen aus dem Nachbarstaat Tabasco das Gebiet unter ihre Kontrolle. Investoren und Importeure verhalfen der Holzindustrie zu Weltmarkt-Position. Das lacandonische Mahagoni-Holz gelangte über die Häfen im Golf von Mexiko nach London, Liverpool und New York. Da die Holzausbeutung der Unternehmen im Grenzgebiet Mexikos mit Guatemala stattfand, kam es zu Konflikten, die beinah zum Krieg führten. Doch nach der Einigung zwischen beiden Ländern 1895 wuchs die Holzwirtschaft weiter. Die Zahl der Holzunternehmen verdoppelte sich. Die liberale Politik des Präsidenten Porfírio Diaz förderte ausländische Investitionen und Mahagoni war besonders begehrt. Bis zum Ende des Jahrhunderts waren alle über die Flüsse erreichbaren Gebiete aufgeteilt.

Die Arbeitsmethoden waren primitiv. Die Bäume wurden mit der Axt gefällt, von Ochsen aus dem Wald geschleift und dann über die Flüsse transportiert. Die Holzfäller lebten wie Sklaven, durch Schulden an den Betrieb gefesselt und vom Rest der Welt abgeschnitten durch undurchdringliche Vegetation.

Anfang des Jahrhunderts kauften die Unternehmen, die bisher Konzessionen erworben hatten, die Waldflächen vom Staat und wurden zu Grundbesitzern. Sieben Unternehmen teilten den Lacandonischen Urwald unter sich auf. Der südlichste Teil des Gebiets trägt noch heute den Namen des damaligen Besitzers Marqués de Comillas, einem spanischen Adligen. 1913 erreichte die Revolution den Urwald und viele Arbeiter wurden durch die revolutionäre Armee von ihren Unterdrückern befreit. Hinzu kam der Verlust des europäischen Marktes durch den Ausbruch des 1. Weltkriegs, so dass die Holzwirtschaft in einen Niedergang eintrat. Die Arbeitsbedingungen in den fortbestehenden Betrieben besserten sich jedoch nicht. Erst 1949, als die mexikanische Regierung den Export von Stammhölzern verbot, fand diese Form der Ausbeutung des Urwalds und der Arbeiter ein Ende. Aufgrund der Infrastruktur und der Arbeitsmethoden der Holzwirtschaft hatte der Lacandonische Urwald in diesem Zeitraum noch keine schweren ökologischen Schäden erlitten.

Die Vancouver Plywood Company, ein mächtiges US-amerikanisches Unternehmen interessierte sich für die industrielle Ausbeutung des nördlichen Lacandonischen Waldes. Zu diesem Zweck gründete eine Gruppe von Mexikanern die Aktiengesellschaft Madera Maya und erwarb mit Kapital aus den Vereinigten Staaten bis 1954 über 4200 km2 Waldflächen.

Gleichzeitig wurde eine neue Front eröffnet. Aus nördlicher und westlicher Richtung wanderten, von Regierungsbehörden ermutigt, Indianer und Mestizen in den Lacandonischen Urwald ein. Die meisten Landsuchenden waren auf der Flucht vor Armut, Landmangel und den harten Arbeitsbedingungen, die bei den großen Viehzüchtern und Kaffeeanbauern herrschten. Für die Regierung war der Urwald ein willkommenes Ventil für soziale Ungerechtigkeit.

Die Kolonisierung hatte schlimmere Folgen für den Wald als die Ausbeutung einzelner Baumarten. Um Mais und Bohnen anzubauen oder Grasland für die Viehzucht zu schaffen, musste der Wald weichen und wurde mit Axt und Feuer gerodet. Die Holzindustrie förderte diese Entwicklung dadurch, dass sie mit modernen Maschinen Wege in bisher unerschlossene Gebiete schafft. So drangen zwischen 1964 und 1974 viele Siedler auf den Wegen der Firma Madera Maya in den Urwald ein.

Bis heute hinkt die Regierung der Entwicklung mit einer chaotischen Politik hinterher. 1967 wurden 4000 km2 Fläche des Lacandonen-Urwalds zu nationalem Eigentum erklärt, um in diesem Gebiet die Besiedlung mit neuen Siedlungszentren zu steuern. Außerdem wurde 1972 ein mehr als 6000 km2 umfassendes Lacandonen-­Reservat geschaffen, „das seit undenklichen Zeiten den Lacandonen gehört“, wie es offiziell hieß. Damit sollte dem Siedlungsdruck auf dem nördlichen und westlichen Teil des Urwalds entgegengelenkt werden. Zwei Jahre später wurde die Forstwirtschaft verstaatlicht. 1975 schließlich entstand das Biosphären-Reservat Montes Azules mit einer Fläche von 3312 km2. Unzählige weitere Programme und Projekte kamen hinzu. Doch die meisten dieser Vorhaben waren oberflächlich oder sogar widersprüchlich. So kam es durch die Schaffung des Lacandonen-Reservats 1972 zur Vertreibung von über 20 indianischen Gemeinschaften von Tzeltales und Choles. Die Zerstörung des Regenwalds wurde nicht aufgehalten.

Gegenwärtig leben rund 200.000 Menschen in über 700 Siedlungen im Gebiet des Lacandonen-Urwalds. 70% von ihnen sind indianischer Herkunft und gehören zu den Lacandonen, Choles, Tzeltales, Tojolabales und Zoques. Hunderte von Siedlungen verfügen über keinerlei Besitz-Titel und ebenso wenig über Alternativen, um den Regenwald zu verschonen. Das hohe Bevölkerungswachstum und guatemaltekische Bürgerkriegs-Flüchtlinge haben den Problemdruck noch erhöht. Zu den ökologischen und sozialen Problemen gesellt sich das verwirrende Handeln einer Regierung, die zum einen Naturschutz, zum anderen Landrechte gewähren, und schließlich noch Tropenholz, Erdöl und Strom aus Wasserkraft gewinnen möchte. Das staatliche Erdölunternehmen PEMEX verursacht nicht nur Umweltbelastungen durch Exploration und Förderaktivitäten, sondern öffnet mit schweren Maschinen auch Gebiete zur Kolonisierung, die vormals unzugänglich waren. Durch die geplanten Wasserkraftanlagen und Stauseen am Rio Usumacinta würden weitere bedeutende Landflächen durch Überflutung verloren gehen.

Noch mehr verschärft hat sich die Situation nach dem Aufstand der Zapatisten und der darauffolgenden Militarisierung der Region. So sind Tausende von Menschen auf der Flucht vor den Auseinandersetzungen und auf der Suche nach Land in das Gebiet des Reservats Montes Azules eingedrungen.

In den Nachbar-Bundesstaaten von Chiapas auf der Halbinsel Yucatan konnte in den vergangenen Jahren die Zerstörung der Wälder aufgehalten werden. Als die Konzessionen der staatlichen Forstunternehmen ausliefen, wurden die Nutzungsrechte an die Ejidos, die indianischen Gemeinden, übertragen. Gleichzeitig wurde ein Forst-Service eingerichtet, der eine forstliche Planung in den Gemeinden ermöglichte. So konnten die neuen Nutzer auch überzeugt werden, zugunsten kommender Generationen auf eine kurzfristige Ausbeutung zu verzichten und stattdessen vielfältige Nutzungen der artenreichen Wälder zu prüfen. Auch in Chiapas ist dieses Modell vor wenigen Jahren in einigen Gemeinden in der Region Marqués de Comillas gestartet worden. Doch wo bewaffnet Konflikte ausgetragen werden, sind langfristige Projekte nicht verwirklichbar.

Die Reaktion der Zapatisten auf die Verabschiedung des manipulierten Reformvorschlags fiel deutlich aus: „Mit dieser Reform wird die Tür zum Dialog und zum Frieden geschlossen“. Nachdem die Regierung Fox zunächst das Militär teilweise aus der Krisenregion zurückgezogen hatte, werden nun neue Truppenbewegungen gemeldet. So beschleunigt der Krieg in Chiapas das Ende der Wälder.

Die Darstellung der Geschichte der Selva Lacandona basiert auf dem ausführlichen Aufsatz von Jan de Vos: Una selva herida de muerte, historia reciente de la Selva Lacandona. 
In: Vásquez Sánchez, Ramos Olmos, (Hrsg.): Reserva de la Biósfera Montes Azules, Selva Lacandona: Investigación para su conservación. Publicaciones especiales Ecosfera No. 1, Mexico 1992, S. 267-286.